PHILIPP SCHREINER
Manifestationen in Porzellan – Cosima Göpferts Op-Art-Reliefs
„Die bedeutende handwerkliche und künstlerische Tradition des ‚Weißen Goldes‘ ist ja zu Ende des letzten Jahrhunderts durch die Verführung zur dekorativen Glätte und die kunstgewerbliche Verniedlichung in Verruf geraten, so daß sich bekannte Künstler nicht mehr mit diesem anspruchsvollen Werkstoff eingelassen haben.“, schrieb Arnold Bode, Begründer der documenta, in dem 1968 erschienen Band zur Ausstellung „ars porcellana. die rosenthal relief reihe“ im Kölnischen Kunstverein. Auf Bodes Anregung hin, entstand ab 1964 eine Reihe von Reliefs in Porzellan, die von den wichtigsten Künstlern jener Zeit gestaltetet wurden, darunter Henry Moore, Lucio Fontana, Victor Vasarely, Günther Uecker und Almir Mavignier. Ohne den Firmeninhaber Philip Rosenthal, der eine ganze Abteilung innerhalb der Produktionsstätten von Rosenthal Porzellan in Selb für die Herstellung der Reliefs bereitstellte, wäre dieses Unterfangen undenkbar gewesen.
Als sich Cosima Göpfert im Herbst 2018 für das Landesstipendium Bildende Kunst der Kulturstiftung Thüringen mit der SV SparkassenVersicherung bewarb, stellte ihr keine der Porzellanmanufakturen in Thüringen die eigenen Produktionsstätten zur Mitbenutzung in Aussicht. Dabei arbeitet die Künstlerin schon seit 2012 selbstständig mit Porzellan und vertieft dies seit 2016 in einem Werkzyklus von Porzellanreliefs. „Auf Grundlage meiner in den vergangenen Jahren entstanden Wandobjekte plane ich weiterführende Arbeiten, die sich ebenfalls aus wiederkehrenden Porzellanelementen zusammensetzen. […] Da die Herstellung der erforderlichen Stückzahlen von Porzellanelementen für größere Dimensionen in meinem Atelier nicht realisierbar ist, wird eine Zusammenarbeit mit erfahrenen Manufakturen, wie Weimar Porzellan oder KAHLA Porzellan, erforderlich. Eine erfolgreiche Kooperation würde mir auch bei zukünftigen Projekten nützlich sein. Das Stipendium möchte ich hierfür einsetzen“, formulierte Göpfert ihre Motivation in der Bewerbung für das Landesstipendium.
Dass es zu Beginn des Jahres 2020 tatsächlich zu einer Kooperation zwischen der Künstlerin und KAHLA Porzellan gekommen ist, erweist sich als wahrer Glücksfall. Göpfert konnte die nötigen Teile für die Arbeit ZU 100 ODER 1000 im Werk von KAHLA glasieren und brennen lassen, außerdem mit Hilfe der Experten in der Entwicklerwerkstatt von KAHLA Porzellan Modelle für spätere Abgüsse fertigen. Es ist ein Projekt, das sich nicht nur in die Traditionslinie einer in der Nachkriegszeit erneut etablierten Zusammenarbeit von Porzellanindustrie und Kunstschaffenden einreiht, sondern auch auf die lange Geschichte des Porzellans in Thüringen seit dem 18. Jahrhundert verweist.
Die Mitwirkung der Industrie verändert die Herstellung der Porzellanreliefs erheblich. Ist es doch ein enormer Unterschied, ob die Kunstwerke unter den einfachen Bedingungen im eigenen Atelier oder unter den optimalen technischen Gegebenheiten einer Porzellanmanufaktur gefertigt werden.
Cosima Göpferts Brennofen ist circa 70 Zentimeter hoch und verfügt über einen Durchmesser von etwa 40 Zentimetern. Er steht in ihrem beengten Gartenhäuschen in ihrem Wohnort Bechstedtstraß. Der Ofen erzeugt eine maximale Brenntemperatur von 1.300 Grad Celsius. Nur wenige von Göpferts Porzellanfäusten lassen sich gleichzeitig darin brennen. Die Brennöfen der Porzellanmanufaktur KAHLA sind jeweils mehrere Meter hoch und breit. Sie entwickeln ohne Probleme eine Brenntemperatur von 1.400 Grad Celsius. In ihnen fanden reichlich 40 Fäuste auf einmal Platz. Im Vergleich fallen jedoch nicht nur quantitative Produktionsunterschiede zu buche, denn: Die Brenntemperatur bei der Fertigung von Porzellan entscheidet über das unvermeidliche Schrumpfen der Abgüsse und die Farbnuancen der Glasur. Der übliche Größenverlust zwischen Originalform und Abguss im Brand schwankt zwischen einem Sechstel bis zu einem Siebentel. Niedrigere Temperaturen führen zu cremefarbenen, weniger geschrumpften Resultaten, höhere Temperaturen lassen die Porzellangebilde dagegen etwas stärker geschrumpft, jedoch in strahlendem Weiß aus dem Ofen kommen. Feinheiten, die die Herausforderungen im Umgang mit dem Material deutlich machen und handwerkliche Versiertheit, gute Planung und Genauigkeit erfordern.
PORZELLANRELIEFS
Porzellan ist ein sehr harter und dichter Werkstoff, der gegenüber chemischen Einflüssen der Atmosphäre resistent ist. Er verändert sein Aussehen auch nach langer Zeit im Freien nicht, ist vollkommen witterungsfest. Durch den Einsatz mehrmals verwendbarer Gipsformen in der Herstellung ist Porzellan besonders gut für die Vervielfältigung geeignet. Die Formgenese erfolgt in mehreren Schritten: Herstellung eines Modells, der sogenannten Originalform, Überführung in eine Gipsform, von der ein Abguss hergestellt wird (zumeist in hoher Stückzahl). Dieser erhält im Glühbrand bei 1.000 Grad Celsius die nötige Festigkeit, um anschließend glasiert zu werden. Die aufgetragene Glasur verbindet sich bei 1.400 Grad Celsius untrennbar mit der Abgussform. Farben und eventuelle Überzüge in Platin oder Gold werden aufgedruckt oder mit dem Pinsel aufgebracht und in einem dritten Brand bei 750 bis 850 Grad Celsius in die Glasur eingebrannt.
Cosima Göpferts Werkreihe der Porzellanreliefs unterliegt einer systematischen Ordnung sich seriell wiederholender Formen. Die Grundlage bildet stets eine matt-schwarz pigmentierte Holzfaserplatte, auf der sie reliefartig mehr oder weniger tief in den Raum ragende Porzellanelemente aufbringt. Die Überwindung der Fläche und das Vordringen in den dreidimensionalen Betrachterraum ist ein Hauptmerkmal der objekthaften Reliefs von Göpfert. Pro Arbeit findet immer nur eine einzige Porzellanform repetitiv Verwendung – teilweise bis zu einhundert Mal.
Über das Jahr 2019 hinweg entstand mittels des Stipendiums ein erweitertes Formenrepertoire, das Göpferts bisherige Kompositionen um zahlreiche Varianten ergänzt und neue Impulse in ihrer Reihe der Porzellanreliefs setzt. Nach den bekannten Rauten, Halbkugeln, stilisierten S-Formen, V-Formen, Barbiebeinen und Männerfäusten werden nun Pyramiden, Kugeln, Kegel, Schalen, Ringe und Scheiben spielerisch und frei eingesetzt oder streng konzeptuell verbaut. Ersteres lässt sich nachvollziehen anhand der kleinen Serie mit dem Titel PULSE, in der die Künstlerin Porzellankugeln unterschiedlicher Größen in einer Streukomposition auf kreisförmigem, schwarzem Grund frei anordnet. In ihren WABEN hingegen dominiert eine rigide Ordnung, die einem genauen Muster folgt. Mit Platin überfasste Schälchen im Zentrum werden umringt von wabenförmigen Reihen aus platinierten und nicht platinierten Schalen, die sich abwechselnd und konzentrisch bis zum Rand der Holzplatte fortsetzen.
OP-ART
Op-Art steht für eine gegenstandslose, konstruktive Kunst, die sich Mitte der 1950er Jahre etablierte und durch optische Täuschungen bestimmte Effekte, wie illusionistische Bewegungen und Raumwirkungen, erzielt. Diese Wirkungen beruhen auf der Trägheit beziehungsweise mangelnden Auflösungsfähigkeit des menschlichen Sehapparates, also der binokular angeordneten Augen und der Bildverarbeitung im Sehzentrum des Gehirns. So werden durch die spezielle Beschaffenheit der Bilder, Reliefs und Skulpturen gezielt Flimmereffekte erzeugt. Zumeist entbehren diese Kunstwerke einer persönlichen Handschrift der Künstlerinnen und Künstler, denn sie werden häufig maschinell, teils auch industriell hergestellt oder aus der Vervielfältigung von Einzelelementen konstruiert.
In der Arbeit PYRAMIDE reiht Göpfert auf einem schwarzen Sechseck dreiseitige Porzellanpyramiden aneinander, die sie, abwechselnd auf einer der drei Seiten liegend oder auf einem der drei Winkel stehend, in geringem Abstand zueinander auf der Platte montiert. Der daraus resultierende Verbund an Porzellanpyramiden ermöglicht diverse Lesarten, die sich je nach Fokussierung des Blicks auf einzelne Flächen der Pyramidenelemente oder auf elementübergreifende Formen ergeben. Im Detail erscheint jede Einzelform als dreiteilig gegliedert: drei gleichschenklige Dreieckflächen, die, bedingt durch Licht und Schatten, in drei verschiedenen Graustufen erscheinen. Richtet man den Blick auf das Gesamtbild, formieren sich zweidimensionale Rauten und sogar Illusionen von dreidimensionalen Würfeln. Deren plastische Modulation wird unterstrichen durch das Hell-Dunkelspiel der kleinen Pyramidenseitenflächen, wodurch der Blick verführt wird, weiteren Formen nachzugehen, die sich zwangsläufig unter die Hauptelemente von Würfeln und Rauten drängen.
In nochmals gesteigerter Form finden sich diese optischen Phänomene in der Arbeit WABE III. Die wiederkehrenden, kleiner werdenden und in sich gedrehten Sechseckformen erzeugen im Betrachter das, was weithin unter dem Begriff Vertigo-Effekt in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Er löst Schwindelgefühle aus, als ob der Boden unter den Füßen ins Wanken gerät.
MANIFESTATIONEN IN PORZELLAN
Ein neues Konzept innerhalb Cosima Göpferts Œuvre beinhaltet – über die manuelle Herstellung selbst entworfener Einzelteile hinaus – die Verwendung vorgefundener, industriell gefertigter Porzellanprodukte für den alltäglichen Gebrauch. Durch serielle Reihung und künstlerische Aneignung verlieren diese Produkte ihren ursprünglichen Kontext. Einerseits werden sie der Waren- und Konsumwelt entzogen, der praktische Gebrauch im Haushalt weicht dem kommunikativen Gebrauch im Kunstbetrieb, anderseits werden sie dem Kunstmarkt und somit neuen Verkaufsmechanismen ausgesetzt.
Die Arbeit ZU 100 ODER 1000, auf der 36 Porzellannachbildungen einer linken Männerfaust mit Kabelbindern montiert wurden, entfaltet ihre subversive Schlagweite (im metaphorischen Sinn) auf ganz andere Weise. Die politische Kraft der Gemeinschaft, die Kraft der Einhundert oder gar Tausend, wird hier konterkariert durch die Zerbrechlichkeit und Fragilität des Materials, aus dem die Fäuste bestehen. Hingegen dominieren in den einzeln präsentierten Männerfäusten, betitelt mit ES IRRT DER MENSCH ... (2017, 2020) und befüllt mit Konfetti, deutlich Ironie und Humor.
Der Porzellanzyklus der gebürtigen Thüringerin besticht sowohl durch die intensive Auseinandersetzung mit maschinell und manuell hergestellten, seriellen Formen, die geistig-konstruktive Erarbeitung der Kompositionen, als auch durch ihr Interesse am Zeitgeschehen. In der gesellschaftskritischen Haltung – nicht plakativ hervortretend, sondern über die ironische Brechung von Bedeutungen sichtbar gemacht – und der Aktualisierung von Mitteln und Methoden der OP-Art spiegeln sich unverwechselbar ihre Interessen als Mensch und Künstlerin wider. In ihrer Aneignung und Neuinterpretation des kulturhistorisch so bedeutsamen Materials Porzellan werden sie manifest.
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Arnold Bode: ars porcellana. rosenthal relief reihe, in: Ausst.-Kat. „ars porcellana. rosenthal relief reihe“ (6.9.–6.10.1968, Kölnischer Kunstverein), hrsg. von Kölnischer Kunstverein e.V., Köln 1968, S. 5.